Die Angst spielt mit

Illustration: Eine Persoon schaut zwischen den Falten eines Bühnenvorhangs hervor.
(Foto: Jan Buchczik)

Auftrittsangst. Prof. Dr. Kati Thieme vom Institut für Medizinische Psychologie der Philipps-Universität Marburg erklärt, wie Resilienz dagegen helfen kann. 

INTERVIEW: PROF. CHRISTOPHER BRANDT

Christopher Brandt: Stress, Nervosität und Lampenfieber – mit diesen Begleiterscheinungen des Musizierens haben Studierende, aber auch Lehrende im Laufe ihrer Biografie immer wieder zu tun, ohne dass über diese Themen gerne offen gesprochen wird. Aus diesem Grund haben wir an der HfMDK das Forschungsprojekt „Resilienz gegen Auftrittsangst“ ins Leben gerufen. Was ist Resilienz?

Kati Thieme: Als Resilienz wird die mentale und emotionale Fähigkeit verstanden, flexibel mit Stress umzugehen und Probleme und Krisen unbeschadet zu überstehen. Entsprechende Faktoren für die Entwicklung von Resilienz sind körperliche und psychische Gesundheit, die stabile Bindung zu einer Bezugsperson sowie die Überzeugung, etwas richtig gut zu können – gerade letztere kann durch die hohen Anforderungen des Musikerberufs irritiert werden. Das geht oft mit Selbstzweifeln, Furcht, Zeit- und Leistungsdruck einher. Auftrittsangst wurde lange Zeit als Ausdruck ungenügender Leistungsfähigkeit bewertet. Neurowissenschaftliche Studien der Hirnreaktionen zeigen jedoch, dass Auftrittsangst an hohe Ansprüche gebunden ist. So wird verständlich, warum Yo-Yo Ma und Anne-Sophie Mutter, die wir für dieses Projekt interviewt haben, berichten, dass gerade besonders begabte Musiker*innen im hohen Maße darunter leiden. Für das Resilienztraining bedeutete das, hinderliche Faktoren prophylaktisch schon vor dem Konzert zu reduzieren, damit die hohen Ansprüche erfüllt werden können.

Christopher Brandt: Die limitierenden Faktoren können also regelrecht abtrainiert werden, so dass man sich wieder dem eigentlichen Kern des Musizierens widmen kann?

Kati Thieme: Das Ziel ist „Discipline of Mind“, wie es Yo-Yo Ma formuliert, also die Fähigkeit, sich im richtigen Moment auf das Werk zu fokussieren. Resilienz in der Musik bedeutet, die hohe Konzentrationsleistung durch Entspannung und bewusstes mentales Training von Freude und Mut zu ermöglichen. Es ist ein lebenslanges Training.

Christopher Brandt: Wie sieht dieses Training konkret aus?

Kati Thieme: Das Resilienztraining besteht aus drei Komponenten: einem Seminar, der Neuromodulationsmethode zur Verbesserung der Entspannungsfähigkeit und Konzerten vor Patient*innen zur Desensibilisierung. Im Seminar nutzen wir Interviews mit Anne-Sophie Mutter, Yo-Yo Ma, Paul Katz vom New England Conservatory of Music in Boston und Lehrenden der Musikschulen Marburg und Berlin, die der jeweiligen Thematik innerhalb des Programms zugeordnet sind. Die Ziele bestehen in der klassischen und operanten Konditionierung von Vorfreude und Mut. Dabei setzen wir uns mit Lerntheorien und Stressbewältigung und deren Anwendung auf das Konzert und seine Vor- und Nachbereitung auseinander, ersetzen Katastrophisierungen durch aktive Verarbeitungsstrategien und angsterzeugendes Vermeidungsverhalten durch gesundes Verhalten schon in der Vorbereitungsphase und danach.

Christopher Brandt: Was passiert im Kontext der Neuromodulation?

Kati Thieme: In der Neuromodulation erhalten Studierende elektrische Stimuli in Abhängigkeit vom Herzschlag, nachdem die individuellen Schmerz- und Toleranzschwellen bestimmt worden sind. Während der achtminütigen Stimulation kommt es wie bei einem Intervalltraining zu Veränderungen des Blutdrucks. Aufgrund der Veränderungen der Druckverhältnisse in der Halsschlagader werden sogenannte Barorezeptoren aktiviert. Diese kommunizieren mit dem Stammhirn, in dem sich ein kleiner Kern befindet, den man in der Fachsprache dorsal-medialen Nucleus Tractus Solitarius nennt, kurz dmNTS, und der für die Regulation von Blutdruck, Angst, Stresshormone, Schlaf und Schmerz verantwortlich ist. Obwohl es Schmerzstimuli sind, die man an der rechten Hand erhält, wird nach ein bis zwei Stimulationen eine tiefe Entspannung ausgelöst. Die kontinuierliche Wiederholung der Stimulation führt zu einer Konditionierung der Barorezeptoren und des Stammhirns als Baroreflex mit dem Effekt einer langfristigen körperlicher Entspanntheit –

Christopher Brandt: – ein Verfahren, das Ihrer schmerztherapeutischen Arbeit in Marburg entlehnt ist –

Kati Thieme: ... und schließlich zur Anwendung des Gelernten und Trainierten in drei Konzerten vor unterschiedlichen Patient*innengruppen. Bisher haben die Konzerte in der Vorweihnachtszeit in der Uniklinik und der Klinik Sonnenblick in Marburg stattgefunden, sehr zur Freude der Zuhörenden. Zudem stellt ein Sponsor, Dr. Gerhard Scheuch, Mittel für eine kleines Honorar für die Studierenden zur Verfügung.

Christopher Brandt: Bemerkenswert finde ich, dass für ein Forschungsprojekt ein so ungewöhnliches Konzept mit sich ergänzenden Modulen gefunden wurde. Gibt es schon verwertbare Ergebnisse?

Kati Thieme: Die Studierenden wurden zufällig in zwei Gruppen eingeteilt. Eine Gruppe erhielt das mentale Training, also das Seminar, kombiniert mit der Neuromodulation, die Kontrollgruppe sollte zusätzlich zum Seminar lediglich Yoga praktizieren. In beiden Gruppen beobachteten wir eine Reduktion der Auftrittsfurcht und des Hautleitwertes, was auf die Reduktion der körperlichen, akuten Stressreaktion hinweist, außerdem eine Erhöhung der Resilienz. Die Studierenden, die auch die Neuromodulation erhielten, zeigten eine signifikant höhere Entspannungsfähigkeit nach vier Konzerten, die als Resilienz für zukünftige Konzerte von hohem prognostischem Wert ist. Diese Effekte blieben für länger als sechs Monate erhalten. Sie berichten über bessere Ergebnisse in der Prüfung, gewannen Wettbewerbe, reduzierten Schmerzen und waren erfolgreicher in Prüfungsvorspielen im Vergleich zur Kontrollgruppe.

Christopher Brandt: Die Ergebnisse waren ja so überzeugend, dass wir entschieden haben, das Projekt zu verstetigen und in den kommenden Semestern fortzusetzen.

Kati Thieme: Das Resilienztraining hilft den Studierenden, ihren Ansprüchen zunehmend besser gerecht zu werden und sich auf der Bühne zu verwirklichen: Musizierende experimentieren mit den eigenen und mit den Gefühlen ihres Publikums, wie Yo-Yo Ma sagte: „Wir sind die Wissenschaftler des Herzens.“

Die Fragen stellte

Mehr zum Thema

Frankfurt in Takt